EN

„Bisher Unsichtbares wird mithilfe von AI sichtbar“

Auch in der Photonik etabliert sich Künstliche Intelligenz (KI) rasend schnell. Dr. Markus Kogel-Hollacher gehört als Verantwortlicher für Forschungs- und Entwicklungsprojekte der Precitec Group zu den Protagonisten dieses Trends – und erlebt als Geschäftsführer des Arbeitskreises Lasertechnik (AKL e.V.), dass dessen Mitglieder aus Industrie und Forschung vermehrt KI-Projekte vorantreiben. Im aktuellen PHOTONICS-Interview erläutert Kogel-Hollacher, wie Precitec mit KI konkreten Kundennutzen schafft, warum das Trainieren von Algorithmen harte, aber lohnende Arbeit ist und wie clever eingesetzte KI auch Unsichtbares sichtbar macht. Der alte Traum von autonomen Fertigungsprozessen auf Basis geschlossener Regelkreise wird greifbar.

Herr Dr. Kogel-Hollacher, möchten Sie uns die Precitec Group kurz vorstellen?

Dr. Markus Kogel-Hollacher: Gern. Seit ihrer Gründung im Jahr 1971 legt die Precitec GmbH & Co. KG den Fokus auf Sensortechnik und auf Bearbeitungswerkzeuge für die Lasermaterialbearbeitung. Unsere moderne Sensorik für Laserschneidköpfe geht auf ein Patent von 1968 zurück, welches eine kapazitive Abstands-Sensorik für Schneidwerkzeuge beschreibt. Heute gehört Precitec zu den global führenden Anbietern in diesem Markt und hat mit der Precitec Optronik GmbH in Neu-Isenburg einen zweiten Standort aufgebaut, der Sensortechnik für die Halbleiter- und Glasindustrie, Medizintechnik, Consumer Electronics sowie die Automobilindustrie mit dem wachsenden Bereich E-Mobility entwickelt, fertigt und vertreibt. Aus diesen beiden Keimzellen ist Precitec zu einer global agierenden Unternehmensgruppe mit mehr als 750 Beschäftigten gereift. Als familiengeführtes Unternehmen sind wir unabhängig und agil. Das ist der Schlüssel dafür, dass wir in unseren Kernbereichen Laser- und 3D Messtechnik bis heute ein Innovations- und Marktführer sind. Es ist ein Vorteil, dass Entscheidungen für den Einstieg in neue Technologien und Geschäftsfelder bei uns schnell fallen, wenn wir unsere Inhaber davon überzeugen können.

Gilt das auch für Künstliche Intelligenz (KI)? Seit wann und wofür setzt Precitec auf KI?

Kogel-Hollacher: Seit ungefähr einem Jahrzehnt beschäftigen wir uns intensiv mit der industriellen Digitalisierung und Vernetzung und weiten unsere Entwicklungsansätze in dem Bereich konsequent aus. Unter anderem haben wir einen Precitec Inkubator am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) aufgebaut, in dem ein Team von Data-Scientists in Startup-ähnlicher Atmosphäre digitale Konzepte für Laserprozesse und Messaufgaben von morgen und übermorgen entwickelt. Sie nutzen das ganze Arsenal moderner IT: Industrial Internet of Things (IIoT), Machine Learning (ML), Artificial Intelligence (AI) sowie Cloud Computing. Das hilft uns – und ist zugleich eine sehr gute Möglichkeit für Talente, anhand von realen Anforderungen und Herausforderungen der Industrie ihre Skills zu erproben. Dafür setzen wir kein Vorwissen in der Photonik oder Lasermaterialbearbeitung voraus. Vielmehr ist der „Precitec-Incubator“ voll auf Datenanalysen fokussiert. Wir übermitteln dem Team Prozessdaten und lassen sie wissen, welche Informationen wir gerne daraus gewinnen würden. Danach lassen wir ihnen freie Hand, weil sie besser einschätzen können, welche Methoden und Algorithmen zum Ziel führen. Mittlerweile kann man sagen, die Digitalisierung der Precitec Group ist gelungen.

Welche optische Sensorik verbinden Sie mit welcher Art von Datenmodellen oder KI – und geht es dabei im Kern um die optimierte Qualitätskontrolle in der Fertigung?

Kogel-Hollacher: Seit jeher entwickeln wir an unseren beiden Standorten die Hardware zum Erfassen und Bearbeiten von Messdaten. Unsere Produkte für die Lasermaterialbearbeitung setzen sich aus dem eigentlichen Fertigungswerkzeug und der Sensorik zusammen, die sowohl den Prozess als auch das Werkzeug selbst überwacht, sei es beim Laserschneiden, Laserstrahlschweißen, bei additiven Verfahren oder anderen laserbasierten Prozessen. Dafür nutzen wir Fotodioden, Kamerasysteme oder die Optical Coherence Tomography (OCT). Es geht um Qualität, möglichst fehlerfreie Produktion und darum, dass fehlerhafte Produkte nicht zu Endkunden gelangen. Über die Jahre haben sich für die unterschiedlichen Prozesse jeweils dezidierte Sensorsysteme herauskristallisiert. So erfasst unser Laser Welding Monitor LWM beim Laserstrahlschweißen die wesentlichen Emissionen aus der Bearbeitungszone. Das erlaubt einer Vielzahl von industriellen Anwendern klare Qualitätsaussagen über ihre Fertigungsprozesse. Wir haben jahrzehntelange Erfahrung darin, Sensordaten effizient, schnell und zielführend für die jeweilige Anwendung zu verarbeiten…

… und hier kommt nun KI ins Spiel?

Kogel-Hollacher: Exakt. Wir haben vermutet, dass wir mit modernen Al-Modellen Informationen aus diesen Emissionen extrahieren können, mit denen sich unsere Kunden ein noch genaueres Bild von ihren Laserprozessen und den Ursachen etwaiger Qualitätsschwankungen verschaffen können. Bei der Anwendung ist nach und nach die Frage gereift, ob wir am Ende akkurate physikalische Aussagen beispielsweise über Schweißverbindungen treffen können. Also ob wir zum Beispiel aus den optischen Daten Rückschlüsse auf die Zugfestigkeit oder sogar auf den elektrischen Übergangswiderstand einer Schweißverbindung ziehen können. Falls dem so ist, wäre das ein großer Schritt in Richtung robuster und fehlerfreier Prozesse. Genau auf diesem Weg befinden wir uns aktuell und kooperieren dabei mit ausgewählten Kunden.

Wer trainiert die Algorithmen – und welchen Aufwand erfordert es, damit sie Qualitätsmängel im rauen industriellen Umfeld zuverlässig erkennen?

Kogel-Hollacher: Sie sprechen ein wichtiges Thema an. Eine KI muss trainiert werden. Genügten für die Qualitätssicherung auf Basis unseres LWM einige Dutzend Schweißvorgänge, um Prozessgrenzen festzulegen, müssen wir nun für das Trainieren der KI-Modelle einige hundert Datensätze auswerten. „Auswerten“ heißt in diesem Fall, jede Schweißung zu zerstören, Querschliffe zu machen und Daten zu labeln. Um eine Regression mit dem Ziel zu erstellen, die Beziehungen zwischen einer abhängigen und einer oder mehrerer unabhängiger Variablen zu modellieren, dann muss hierfür das vollständige, sinnvolle Parameterfeld erfasst werden. Das ist mitunter ein großer, personeller Aufwand und kann je nach Produkt auch äußerst kostenintensiv sein. Doch der Aufwand lohnt sich: Denn da die Daten aus dem echten Prozessumfeld stammen, sind KI-Modelle äußerst robust und zuverlässig. Und über die Jahre habe ich festgestellt, dass bei KI-Enthusiasten große Bereitschaft besteht, diese extra Meile zu gehen, um weitere verborgene Informationen zu entdecken.

Die Hardware für Bildgebung und für die Datenübertragung entwickelt sich ebenso rasant wie die Prozessorleistungen. Ist KI-gestützte Prozesskontrolle in Echtzeit machbar?

Kogel-Hollacher: Es gibt Anwendungsszenarien, in denen extrem schnelle Objekterkennung nahezu in Echtzeit unabdingbar ist. Denken Sie an selbstfahrende Autos, deren KI mehrere Objekte – Ampeln, Fußgänger und andere Verkehrsteilnehmer oder etwaige Hindernisse – auf einmal detektieren und in Echtzeit klassifizieren muss, um blitzschnell die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Vor dem Hintergrund ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis es KI-gestützte Echtzeit-Prozesskontrollen auch im Fertigungsumfeld geben wird. Das wirft allerdings die grundlegende Frage auf, ob die Werkzeuge und Prozesse ebenfalls echtzeitfähig werden. Precitec war vor Jahren Vorreiter beim Einführen der OCT als industrielles Sensorverfahren. Wir haben damit die Möglichkeit geschaffen, die Einschweißtiefe in Laserprozessen zu messen, in Echtzeit zu regeln und konstant zu halten. Das war messtechnische Pionierarbeit. Als schwieriger erwies es sich allerdings, Kunden davon zu überzeugen. Bisher hat sich das Verfahren leider nicht auf breiter Front durchsetzen können. Machbar wird KI-basierte Echtzeit-Prozessregelung aber schon sehr bald sein.

Was fehlt dann noch zum autonomen Laserprozess mit geschlossenem Regelkreis?

Kogel-Hollacher: Für bestimmte Aufgaben im Kontext der Lasermaterialbearbeitung gibt es schon Closed-Loop-Lösungen. Sie sind erhältlich, wo es möglich ist, echte physikalische Größen zu messen – beispielsweise per OCT. Zudem werden im Kontext der additiven Fertigung oder des Laserhärtens von Oberflächen zahlreiche Prozesse auf Basis pyrometrischer Temperaturmessungen geregelt. Das vermarkten die Anbieter nicht ganz zu Unrecht als autonome Prozessführung. Ob es aber jemals eine universelle Lasermaschine gibt, die autonom vom ersten Durchlauf an fehlerfreie Bauteile fertigt, das ist gegenwärtig eher eine Forschungsfrage.

Sie haben jüngst auf der Aachener Konferenz „AI for Laser Technologies“ darüber gesprochen, dass KI das Unsichtbare sichtbar macht. Inwiefern?

Kogel-Hollacher: Jeder Fertigungsprozess auf Basis von Photonen, die in ein Werkstück eindringen und dort ihre spezifische Wirkung entfalten, birgt Unwägbarkeiten. Um das erwünschte Resultat in der geforderten Qualität zu erzielen, sind alle wesentlichen Prozesseingangsgrößen akribisch einzuhalten. Abweichungen resultieren zwangsläufig in Qualitätsschwankungen, die aber ohne Sensorik für den Kunden unsichtbar bleiben. Exakt hier setzen wir bei Precitec mit unseren KI-Modellen an. Es geht nicht mehr nur um „gut/schlecht“, sondern wir entlocken optischen Daten aus dem Prozess mithilfe von KI präzise Aussagen über physikalische Eigenschaften, sei es die Festigkeit einer Naht in Kilo-Newton oder der Übergangswiderstand einer Schweißnaht in Mikro-Ohm. Letzteres ist gerade in der Fertigung von Batterien oder Brennstoffzellen ein echter Mehrwert. Aber auch in der Inline-Überwachung schneller Laserschweißprozesse in den Consumer Electronics mit Outputs von einem Bauteil pro Sekunde ist der KI-Einsatz sinnvoll. Wenn Nanosekundenlaser dort Schweißnähte ziehen, unterstützt KI die Datenanalyse der hochfrequent erhobenen Sensordaten des LWM, um aus den Emissionen am Schweißpunkt etwaige Fehler wie abweichende Spaltmaße, ein Verrutschen des Laserfokus oder ein Übermaß an Schweißzusatzstoff zu identifizieren.

Das Alles klingt nach Disruption, zumal KI so breit nutzbar ist. Was sind aus Ihrer Sicht die spannendsten – und die überraschendsten photonischen Anwendungsfelder?

Kogel-Hollacher: Meine Aufgabenfeld in der Precitec Group ist seit mehr als 25 Jahren die Akquise von öffentlichen Verbundprojekten. Wir bringen uns aktiv in die geförderte Forschung auf nationaler und europäischer Ebene ein und gestalten sie mit. Das Ziel sind kurze Wege von der Grundlagen- zur angewandten Forschung und weiter zur Industrie, damit Innovationen schnell den Weg in den Markt finden. Schon allein wir als Precitec Group arbeiten aktuell in Förderprojekten mit, die sich mit der KI-Nutzung in den Bereichen Laserstrahlschneiden, Direct Energy Deposition (DED) mit Pulver sowie in der Batterieentwicklung befassen. Das Einsatzfeld und die potenziellen photonischen Anwendungen von KI sind so breit – und die Entwicklung verläuft derart dynamisch – dass jeder Versuch, hier eine Auswahl zu nennen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. KI erobert aktuell im Höchsttempo Märkte. Wer sich noch nicht damit beschäftigt, sollte das schnell ändern!

Als Geschäftsführer des AKL e.V. haben Sie tiefen Einblick in die Laser-Community. Wie wird KI die Photonik-Industrie verändern?

Kogel-Hollacher: Der Arbeitskreis Lasertechnik e.V. ist eine Gruppe von aktuell rund 170 Personen, die fast alle in der photonischen Industrie tätig sind. Viele von uns haben eine Vergangenheit am Fraunhofer Institut für Lasertechnik ILT in Aachen. Wir laufen uns oft auf Fachkonferenzen wie jüngst der „AI for Laser Technologies“ oder dem World for Photonics Congress in München über den Weg – und demnächst auf dem AKL – International Laser Technology Congress (17.–19. April 2024 in Aachen), auf dem unser Arbeitskreis den renommierten Innovation Award Laser Technology verleiht. Mittlerweile ergibt sich ein recht klares Bild: KI-Methoden werden den Alltag in der photonischen Industrie verändern. Das Einsatzspektrum reicht vom automatisierten Design optischer Systeme und Komponenten über die Optimierung herkömmlicher, additiver und subtraktiver Laserprozesse in der Fertigung bis zur Prozesskontrolle und besagter Echtzeitregelung autonomer Fertigungsprozesse. Als Precitec Group rollen wir aktuell erste industrielle Lösungen aus und sind von deren Erfolg überzeugt. KI ist eine Chance für die Photonik. Sie wird die Möglichkeiten dessen, was wir mit Licht umsetzen können, enorm erweitern.

© Messe München