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„Unternehmen mit Projektideen sind willkommen“

Für Freiformoptiken im Mikroformat gibt es viele interessante Anwendungen. Ihre Fertigung setzt ultrapräzise Verfahren voraus, die es in durchdachte und rundum qualitätsüberwachte Prozessketten von der Modellierung bis zur Nachbearbeitung einzubinden gilt. Genau daran arbeitet das europäische Förderprojekt PHABULOµS. Gemeinsam bauen Forschungsinstitute und spezialisierte Mittelständler eine Pilot-Linie mit modernster – überwiegend photonischer – Fertigungstechnik auf. Für ihre Nutzung können sich alle europäischen Unternehmen in Open Calls bewerben und erhalten für Pilotanwendungen bis zu drei Millionen Euro Förderzuschuss. Im Interview erklärt Projektkoordinator Harry Heinzelmann vom schweizerischen Forschungs- und Innovationszentrum CSEM in Neuchâtel, was es mit der Pilotlinie und deren Nutzung auf sich hat, in welchen Märkten Freiform-Mikrooptiken ihr Potential entfalten und warum es bei Projekten wie PHABULOµS immer auch auf die Bildung von Netzwerken ankommt.

Herr Heinzelmann, Sie koordinieren das Förderprojekt PHABULOµS. Worum geht es darin?

Harry Heinzelmann: Das Ziel unseres Projektes ist es, in Europa Kompetenzen zur Entwicklung und Fertigung von Freiform-Mikrooptiken aufzubauen und dafür bereits vorhandene Kompetenzen in einer Pilot-Fertigungslinie zusammenzuführen. Darauf können Unternehmen mit unserer Unterstützung ihre Projektideen zur Fertigung und Anwendung von Freiform-Mikrooptiken umsetzen. Open Calls hierfür laufen noch bis Ende 2023. Auch wer eine unausgereifte Idee hat, ist willkommen. Wir helfen bei der Präzisierung, leisten Hilfestellung bei der Antragstellung und bei einer positiven Evaluation erhalten kleine und mittlere Unternehmen aus EU-Fonds Zuschüsse von bis zu 90 Prozent der Projektkosten, denn PHABULOµS wird aus dem EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 gefördert. Neben führenden Forschungsinstituten wie dem CSEM Neuchâtel, dem Fraunhofer-Institut für Organische Elektronik, Elektronenstrahl- und Plasmatechnik FEP in Dresden, Johanneum Research aus Graz oder dem finnischen VTT in Espoo sind gut ein Dutzend Unternehmen beteiligt. Wir haben die ersten zwei Jahre des Projekts genutzt, um die Basis für unsere Zusammenarbeit zu schaffen, eine gemeinsame Sprache zu finden, Materialien und Charakterisierungsmethoden abzugleichen und in ersten Pilotanwendungen die Prozesse zu demonstrieren und zu optimieren. Die so erarbeiteten Kompetenzen bieten wir nun an: Unternehmen erhalten von uns aus einer Hand Unterstützung beim Design und bei der Simulation ihrer Freiform-Mikrooptiken und beim Fertigen von Prototypen und später Werkzeugen für eine Skalierung der Stückzahlen, die sie auf unserer Pilotlinie erproben können. Das Netzwerk und unsere Services sollen nach der Förderphase selbsttragend als One-Stop-Shop bestehen bleiben und Unternehmen bei der Entwicklung und Integration von Freiform-Mikrooptiken unterstützen.

Was macht Freiform-Mikrooptiken so interessant? Welche technologischen und ökonomischen Potenziale sind damit zu heben?

Heinzelmann: Die simple Antwort lautet – sie sind beliebig formbar. Lange gab es bei Optiken durch den rotativen Fertigungsprozess die Einschränkung, dass sie symmetrisch sein mussten. Das zog sich bis zu den Mikrooptiken durch. Neue, photonisch basierte Fertigungsansätze wie die Zwei-Photonen-Absorption, die Graustufen-Laser-Lithografie, die Ultrakurzpuls-(UKP)-Laserablation und das Laser-Micro-Machining bieten im Zusammenspiel mit modernen digitalen Design- und Simulationstools volle Designfreiheit. Damit lassen sich ganz neue optische Funktionalitäten in Bauteile integrieren und hoch komplexe optische Bildgebung auf engstem Raum realisieren. Denken Sie an Datenbrillen für Virtual-, Augmented oder Mixed Reality (VR-AR-MR), an Automobilscheinwerfer und Beleuchtungstechnik. Da die Mikrooptiken aus Kunststoff bestehen, sind sie leicht – und obendrein mit etablierten Wafer-, Roll-to-Pate- oder auch Roll-to-Roll-Prozesse auch in hoher Stückzahl günstig herstellbar. Daraus resultiert großes ökonomisches Potential in verschiedensten Märkten…

…was sind aus Ihrer Sicht die interessantesten Anwendungen und Märkte?

Heinzelmann: Kompaktere, intelligente Automobilscheinwerfer, die das Sichtfeld optimal ausleuchten, ohne den Gegenverkehr zu blenden. Sehr leichte und hochpräzise VR-AR-MR-Brillen, deren Displays Bilder dank der Freiformoptiken trotz der sehr kurzen Distanz zum Auge optimal darstellen, aber auch spezifisch angepasste Optiken zur Kopplung der Lichtleiter auf Photonic-Integrated-Circuits (PICs) im Bereich der Integrated Photonics könnten zu einer interessanten Option werden. Bei PHABULOµs wirken auch Anbieter von Beleuchtungstechnik mit, die mit Freiform-Mikrooptiken die Lichtstreuung von Wohn-, Büro- und Messebeleuchtungen im Sinne sehr gleichmäßiger Ausleuchtung optimieren oder kompakte und angenehme Innenraumbeleuchtungen für Busse und Bahnen damit realisieren. Spannend ist auch ein Ansatz im Luxusbereich, den wir als Use-Case umgesetzt haben: Dekorfolien mit hoch komplexem Oberflächenprofil, das im Auge des Betrachters einen spektakulären Glimmereffekt erzeugt. Nach dem Prototyping und der Fertigung einer präzisen Masterform lässt sich diese Folie im Roll-to-Roll-Verfahren mit einigen Metern pro Minute fertigen. Wir sind gespannt, mit welchen weiteren Anwendungsideen Unternehmen auf uns zukommen werden. Wo immer optische Komponenten im Einsatz sind, könnte unsere Technologie in Zukunft eine Rolle spielen.

PHABULOµS baut eine Pilot-Linie auf. Können Sie die Prozesskette kurz skizzieren?

Heinzelmann: Gerne. Es geht mit dem Design und der Simulation der optischen Funktionalitäten los. Da auch Materialanbieter und Hersteller von Prozesslösungen im Projektteam vertreten sind, können wir Unternehmen auch in diesen Bereichen beratend zur Seite stehen – wobei auch die spezifischen regulatorischen Anforderungen der verschiedenen Anwendermärkte Berücksichtigung finden. Etwa die Brandschutzvorschriften im öffentlichen Verkehr oder die Qualitätsanforderungen im Automotive-Bereich. Wenn die Materialauswahl getroffen ist, wird es konkret: Wir suchen den passenden Prozess zur Fertigung der ursprünglichen Freiform und des daraus abgeleiteten Master-Tools, mit dem diese sich dann in höheren Stückzahlen replizieren lässt. Das skalierte Verfahren – der UV-Imprint – bringt die entwickelte Struktur in UV-härtende Polymere ein. Wenn gewünscht, unterstützen wir Anwender auch bei der Systemintegration der so hergestellten Freiform-Mikrooptiken. Weil es bei PHABULOµs darum geht, vorhandene Kompetenzen effizient zusammenzuführen, ist unsere Pilotlinie dezentral in den verschiedenen Instituten untergebracht. Es ist also, wenn Sie so wollen eine virtuelle Linie, in die das geballte Knowhow der Forschungsinstitute, Material- und Verfahrensanbieter einfließt. Dennoch gibt es für Unternehmen eine Person als Ansprechpartner, die sie während des gesamten Prozesses betreut. Alles aus einer Hand, damit Unternehmen bei dieser neuen Technologie nicht in ganz Europa nach Partnern und verstecktem Know-how suchen müssen.

Photonische Verfahren sind das Rückgrat der Pilot-Linie und der gesamten Prozesskette. Stößt mechanische Bearbeitung bei Freiformoptiken im Mikroformat an ihre Grenzen?

Heinzelmann: Es ist tatsächlich so, dass wir auch mechanische Verfahren wie die Diamant-Mikrobearbeitung nutzen. Doch die Skalen mit Genauigkeiten im sub-Mikrometerbereich sprechen für fotolithographische und laserbasierte Prozesse. Gleiches gilt für die Qualitätskontrolle in- und außerhalb der Linie mithilfe unterschiedlicher spektrometrischer, hyperspektraler, interferometrischer, mikroskopische oder Röntgen-Fluoreszenz-Verfahren. Allerdings haben die späteren Prozessstufen wie der UV-Imprint, Spritzguss, Roll-to-Roll-Prägung oder auch die verschiedenen Dünnschicht-Verfahren zur funktionalen Beschichtung der Optiken hohe mechanische Anteile. Es geht um ein effizientes Miteinander. Faustformel: Photonik nutzen wir, wo in Prototyping maximale Präzision gefragt ist. Mechanik, um mit maximalem Durchsatz hohe Stückzahlen zu fertigen. Wir haben in den ersten beiden Jahren viel experimentiert, um die optimalen Prozessketten für unterschiedliche Use-Cases herauszuarbeiten.

Worauf wird es bei einer Skalierung hin zur Massenfertigung besonders ankommen?

Heinzelmann: Es beginnt schon beim Design, das die spätere Skalierbarkeit berücksichtigen und die Kosten im Blick behalten muss. Und es kommt darauf an, den Prozess messtechnisch eng zu begleiten, um die nötige Präzision im Prototyping, beim Werkzeugbau und später bei hohen Stückzahlen zu sichern. Allerdings sind die Anwender meist sehr qualitätsbewusst und haben ihre eigenen Six-Sigma-Anforderungen mit entsprechender messtechnischer Ausstattung. Das müssen wir nicht neu erfinden.

PHABULOµS bietet einen Marktplatz, auf dem die Austeller der LASER World of PHOTONICS stark vertreten sind. Welche Mitmach-Angebote bietet Ihr Projekt außerdem?

Heinzelmann: Priorität haben aktuell ganz klar die Open-Calls. Noch bis Ende 2023 stehen Geldtöpfe bereit, um Unternehmen bei der Entwicklung von Pilot-Anwendungen zu fördern. Ideen und Anträge sind willkommen! Den Marktplatz, in dem übrigens viele Unternehmen aus der LASER-Community vertreten sind, bauen wir parallel auf. Hier sind Anbieter von Fertigungsverfahren, Materialien oder auch Messtechnik ebenso willkommen, wie Spezialisten für Design und Simulation, sowie natürlich interessierte Anwender aus unterschiedlichsten Branchen. Mit dem Marktplatz möchten wir die in der Förderphase geschaffenen Strukturen und Netzwerke verstetigen. Denn die Pilot-Linie soll ja auch in Zukunft als One-Stop-Shop bestehen bleiben und Know-how zusammenführen. Denkbar ist, auf dem Marktplatz auch eine spezifische Stellenbörse zu schaffen oder Trainingsangebote zu vermitteln. Wir laden alle Interessierten an unseren Stand auf der LASER World of PHOTONICS vom 27. bis 30. Juni 2023 ein – aber ich raten ihnen, ihre Ideen und Anträge schon vorher mit uns zu besprechen.

Warum ist der Netzwerkgedanke so wichtig, um neue Technologiefelder zu erschließen?

Heinzelmann: Eine neues Technologiefeld lässt sich schneller und einfacher erschließen, indem wir bereits vorhandenen Kompetenzen zusammenführen. In Europa gibt es das benötigte Know-how, um einen Markt für Freiform-Mikrooptiken zu begründen. Wir führen es entlang der virtuellen Pilot-Linie zusammen und können interessierten Anwendern mit unserem Netzwerk sowohl theoretische als auch praktische Antworten auf alle Fragen rund um die Entwicklung und Integration von Freiform-Mikrooptiken geben. Ich denke, das ist der effizienteste Weg, um diese spannende Technologie zu erschließen und ihr innovatives Potenzial auf breiter Front nutzbar zu machen.

Mehr Infos zum Projekt und zu den Open Calls finden Sie unter https://phabulous.eu/