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Nur was messbar ist, lässt sich optimieren

Mess- und Sensortechnik ist in modernen Produktionsprozessen unverzichtbar. Engmaschige Überwachung definierter Qualitätsparameter in Stichproben oder direkt im Fertigungsprozess sichert maximale Qualität bei minimalem Ausschuss. Optische Messverfahren stoßen dafür in der Halbleiter- und Optikfertigung in den sub-Nanometerbereich vor. Im Interview beleuchten der neue Leiter des Instituts für Technische Optik an der Uni Stuttgart, Prof. Stephan Reichelt, und Manuel Hüsken, CEO der Göttinger Mahr GmbH, aktuelle Technologietrends in der Mess- und Sensortechnik, Einflüsse der Transformation in der Automobilindustrie und Perspektiven für die Mess- und Sensortechnik beim Auf- und Ausbau einer europäischen Fertigungsbasis für Halbleiterchips, Hochvoltbatterien und photonische Lösungen.

Herr Prof. Reichelt, Sie haben vor einigen Monaten die Institutsleitung des ITO übernommen. Welche Pläne haben Sie für das Institut und die Zusammenarbeit mit Industriepartnern?

Prof. Stephan Reichelt: Die Zusammenarbeit mit Industriepartnern hat am ITO eine lange, sehr gute Tradition, die wir weiterhin pflegen werden. Sie ist für beide Seiten befruchtend. Wir selbst bekommen darüber ein Gespür für die Herausforderungen und Fragestellungen, die Unternehmen umtreiben und können unsere Forschung daran ausrichten. Zuweilen können wir sofort Lösungsansätze aus früheren Projekten beisteuern. Jedes Projekt ist eine Plattform, um unsere Kompetenzen und technologischen Möglichkeiten vorzustellen. Als Institut mit rund 40 Beschäftigten verfolgen wir einen holistischen Ansatz: Von der Konzeption der Messverfahren und Auslegung der optischen Systeme über das Fertigen ihrer Kernkomponenten – etwa diffraktive Optiken oder 3D-gedruckte mikrooptische Systeme – hin zu deren Charakterisierung mit unseren Messverfahren und Erprobung in Prototypen können wir unsere Lösungen systematisch und kontinuierlich optimieren.

Können Sie ein Beispiel dafür geben?

Reichelt: Da fällt mir die Entwicklung eines Tilted Wave Interferometers gemeinsam mit Mahr ein. Sie reagiert auf den Bedarf an flexibler Messtechnik für asphärische Optiken. Diese wurden vorher mithilfe computergenerierter Hologramme zur Erzeugung einer Prüfwelle für interferometrische Nulltests vermessen. Um das effizienter zu lösen, entstand die Idee simultaner Teilflächenmessung mit verkippten Wellenfronten. Das ITO hat diesen Ansatz bis ins Prototypenstadium vorangetrieben, ehe Mahr ihn im Zuge gemeinsamer Weiterentwicklungen in ein marktfähiges Produkt übersetzt hat. Das Beispiel zeigt, wie jahrelang gepflegte Forschungskooperation Know-how hervorbringt, das konkrete Probleme löst. Zugleich lernen unsere Studierenden und Doktoranden dabei, worauf es ankommt – und entwickeln sich zu gefragten Fachkräften. Die Qualifizierung ist und bleibt eine zentrale Aufgabe unseres Instituts.

Auch Sie, Herr Hüsken, sind noch nicht lange an der Spitze von Mahr. Was sind Ihre Pläne?

Manuel Hüsken: Ganz oben auf der Liste steht für uns die weitere Digitalisierung. Wir wollen künftig verstärkt digitale und vernetzte Produkte anbieten. Dabei kommt auch KI ins Spiel: Sie soll es Anwendern ermöglichen, ihre Produktivität zu steigern, Ausfällen vorzubeugen und kritische Entwicklungen schon im Anfangsstadium zu erkennen. Hierfür entwickeln wir entsprechende Bedienoberflächen, die sich mithilfe von KI an die jeweiligen Nutzer anpassen können. Ein anderes Digitalisierungsthema ist für uns die Predictive Maintenance, für den wir neue Ansätze verfolgen. Schon bevor die Maschine beim Kunden ist, wollen wir uns ein Bild von ihrem Zustand machen: wie gut läuft sie und in welchem Zustand verlässt sie unser Werk? Dazu gehört auch, dem Kunden erweiterte digitale Möglichkeiten anzubieten, etwa einen Digitalen Zwilling seiner Maschine. Ein drittes, sehr wichtiges Ziel ist es, die aktuelle Transformation in der Fahrzeugindustrie gut zu bewältigen. Es gilt, profitables Umsatzwachstum zu generieren und dafür die anderen Geschäftsbereiche weiter auszubauen. Was viele nicht wissen: Mahr stellt nicht nur Messtechnik her, sondern auch Zahnraddosierpumpen, Misch- und Dosiermaschinen sowie Kugelführungen. Ganz wichtig ist mir aber auch, unseren Mitarbeitern eine Zukunftsperspektive und ein modernes Arbeitsumfeld zu bieten. Daneben haben wir die Komplexitätsreduktion im Unternehmen und die Neukundengewinnung im Fokus. Das sind die großen Punkte, an denen wir in den kommenden fünf Jahren arbeiten wollen. Und natürlich gibt es noch weitere technologische Unterthemen.

Erwähntes Tilted Wave Interferometer und die Übernahme der NanoFocus AG deuten an, dass Mahr gezielt auf optische Verfahren setzt. Gerät taktile Messtechnik ins Hintertreffen?

Hüsken: Nein, ganz und gar nicht. Wir setzen auch in Zukunft auf beide Technologien, also sowohl auf taktile als auch auf optische Messgeräte. Es sind Technologien, die sich gegenseitig nicht ausschließen, sondern ergänzen. Die optischen Verfahren sind ein wichtiger Baustein für die Zukunft. Denn in der Medizintechnik, der Halbleiterindustrie, der Optik sowie in vielen anderen Branchen steigen die Anforderungen an die Strukturen und Topografien von Oberflächen beständig an. Dafür ist es notwendig, die passenden Technologien im Portfolio zu haben. Hierzu eine grundsätzliche Anmerkung: Die Wahl des richtigen Messverfahrens für die spezifische Anwendung ist nicht immer einfach. In der Regel ist das zweidimensionale Tastschnittverfahren eine ausgezeichnete Wahl für die schnelle Oberflächenvalidierung bekannter Produkte und Prozesse. Diese Technik ist aus finanzieller und technischer Sicht weltweit akzeptiert. Dagegen sind berührungslose 3D-Messungen die bessere Wahl, wenn die Oberfläche technisch komplex, zusätzliche statistische Sicherheit erforderlich oder das Material sehr empfindlich ist. Zudem ist die Messwertaufnahme deutlich schneller und ermöglicht großflächige 3D-Aufnahmen.

Und was sagt der Wissenschaftler dazu?

Reichelt: Auch nach meinem Verständnis wird es beim Nebeneinander taktiler und optischer Verfahren bleiben. Der Stellenwert optischer Verfahren steigt, da sie berührungslos schnelle Zeilen- und Flächenscans ermöglichen, um komplexe 3D-Oberflächen zu erfassen. Hier sind sie im Vorteil gegenüber punktuell messenden taktilen Verfahren, deren Punktewolken anschließend analysiert werden. Aber es gibt Anwendungen, in denen sich optische Verfahren schwer tun. Sei es wegen Verunreinigungen oder der Oberflächenbeschaffenheit des Messobjekts oder wegen ungünstigen Vibrations- und Lichteinflüssen. Ob zum Beispiel eine per Laser erzeugte kohärente Beleuchtung hilft oder stört, hängt vom Einzelfall und der Zielsetzung ab. Bei jedem Messprojekt ist vorab ein Bündel an Fragen und Parametern zu klären, um aus der Vielfalt an optischen und taktilen Verfahren die richtige Messstrategie abzuleiten.

In vielen Industrieprozessen geht der Trend hin zur 100-Prozent-Kontrolle und damit zu Inline-Verfahren. Welche Herausforderungen stellt das an Ihre Forschung?

Reichelt: Wenn Messungen nah am Prozess durchzuführen sind, sind besonders robuste Verfahren und Sensoren gefragt, die schnell, in vielen Anwendungen möglichst klein sowie flexibel, adaptiv und – nicht zu vergessen – kostengünstig sein müssen. Das sind die Maßgaben, die wir unserer Forschung zugrunde legen, wenn wir neue Verfahren entwickeln. Es gilt, Mehrwerte zu schaffen, etwa indem die Messungen zusätzliche Informationen über das Messobjekt liefern, die Durchlaufzeit senken oder gleich im Prozess Echtzeitdaten bereitstellen, um laufende Prozesse on-the-fly nachzujustieren. Dafür können Sie das Bauteil nicht erst in den Mess-Raum schaffen und dort seine Maßhaltigkeit prüfen. Vieles, was wir am ITO vorantreiben, geht in Richtung der Inline-Messungen. Darunter Single-Shot-Methoden, die in Echtzeit mit einer Aufnahme Informationen generieren, statt Messsequenzen auszuwerten. Das hat nebenbei den Vorteil, dass Single-Shot-Methoden den Einfluss von Vibrationen und Drifts minimieren, was umso wichtiger ist, je näher am Prozess gemessen wird. Diese Inlineverfahren sind ein zentraler Baustein der Industrie 4.0., um Prozesse überwachen und nachsteuern zu können und um die Qualität in einer vollautomatisierten Fertigungswelt abzusichern.

Beschäftigt sich auch Mahr mit Inline-Messverfahren?

Hüsken: Dies ist ein riesig wachsender Markt, der für unsere Zukunft ein wichtiger Faktor ist. Professor Reichelt hat sehr gut beschrieben, was die Anforderungen an die Inline-Messverfahren sind. Wir bieten heute schon vielfältige Sensoren für diese Verfahren an. Darüber hinaus ist klar, dass die Messtechnik sich aus den Messräumen in Richtung Linie bewegt. Weswegen wir die bestehende Sensorik und Technologien für diesen Bereich in Zukunft auch ausbauen werden. Nicht jedes Merkmal wird in der Präzision direkt inline im Prozess messbar sein. Aber die Messtechnik muss in die Fertigungswelt integrierbar sein, sodass sich im Closed Loop produzieren lässt.

Am ITO stößt Messtechnik tief in Sub-Wellenlängenbereiche vor. Es geht um Asphären, 3D-gedruckte Mikrooptiken und Künstliche Intelligenz. Wo sind diese Highend-Lösungen im Einsatz?

Reichelt: Da optische Technologien längst vom Spezialgebiet zur Querschnittstechnologie gereift sind, fächert sich das Anwendungsspektrum sehr breit auf. Ob in der Produktionstechnik, Bildverarbeitung, Datenübertragung, Medizintechnik, Biotechnologie, Energie- und Umwelttechnik oder im Verkehr, die Beiträge der optischen Technologien sind nicht mehr wegzudenken. EUV-Lithographie realisiert mit 13 Nanometern (nm) Wellenlänge Mikroprozessoren mit zehn Milliarden Transistoren auf der Fläche eines Fingernagels. Mechanische Fertigungsverfahren werden durch hochpräzise Lasermaterialbearbeitung ersetzt. Autonome Fahrzeuge finden sich mithilfe optischer Sensorik im Verkehr zurecht. Und am ITO realisieren wir die erwähnten 3D-gedruckten mikrooptischen Systeme, die unter anderem miniaturisierte Endoskope zur Suche nach Ablagerungen in Blutbahnen möglich machen. Die Linsen werden dafür direkt auf optische Fasern aufgedruckt, und ermöglichen eine multimodale Bildgebung und Sensorik. So verschieben wir kontinuierlich die Grenzen des Machbaren – und benötigen dafür maximal präzise Messverfahren. Denn nur was messbar ist, lässt sich produzieren und optimieren.

Nano-Auflösungen, digital getriebene Messverfahren und Messtechnik für Batterie- und Brennstoffzellenfabriken bietet auch Mahr an. Wie beeinflusst der Umbruch in der Automobilindustrie den Mess- und Sensortechnikmarkt?

Hüsken: Der Automobilbereich wird für Mahr auch in Zukunft von hoher Bedeutung bleiben. Teilweise werden in der Automobilfertigung aktuell die bestehenden Fertigungslinien messtechnisch modernisiert, wovon wir profitieren. Doch bereits jetzt werden im Verbrennungsbereich viele Investitionen einer sehr strikten Kostenkontrolle unterzogen. Die Branche schichtet ihre Mittel in Richtung Elektromobilität um. Auch hier sind wir gut aufgestellt. Insgesamt hat der Markt für Messtechnik in der E-Mobilität eine andere Komplexität. Darauf müssen wir reagieren, um die darin liegenden Chancen zu nutzen. Kompetenz im Bereich Oberflächenmesstechnik ist eine wichtige Voraussetzung dafür. Ich gehe davon aus, dass die Nachfrage nach optischer Messtechnik weiter steigt und ihre Beiträge zu mehr Systemeffizienz in vielen neuen Bereichen des Automobilbaus gefragt sein werden. Auch in elektrischen Antriebssträngen gibt es höchste Präzisionsanforderungen. Messtechnik hilft unter anderem, die Oberflächen zu optimieren: Genauere Lager, minimierte Reibung im Sinne von minimalem Energiebedarf und Verschleiß. Diese Zielsetzung sorgt für einen stetig steigenden Bedarf an optischer Messtechnik. Und das Knowhow bleibt auch dann wichtig, wenn Elektromotoren oder Brennstoffzellen als Antrieb dienen.

Reichelt: Wir sind gespannt darauf, welche neuen Herausforderungen an die Messtechnik sich hier ergeben. Wir treiben die Digitalisierung voran, nutzen KI-Methoden und das nicht erst seit gestern. In der hochauflösenden Messtechnik ist es seit Langem gang und gäbe, verschiedene Messverfahren und modellbasierte Methoden zu kombinieren. Denn nur so lassen sich geometrische und materialspezifische Eigenschaften von Nanostrukturen ermitteln. Wir nutzen dafür die ganze Vielfalt an Informationen, die im Licht stecken: Wellenlänge, Intensität, Phase, Kohärenzeigenschaften, Polarisation oder das Winkelspektrum. Daraus ziehen wir modellbasiert die für eine Messaufgabe relevanten Informationen. Ein wichtiger Ansatz dafür sind auch Digitale Zwillinge des Messaufbaus inklusive Messobjekt, um Messungen virtuell nachbilden und simulieren zu können. Das hilft, Messunsicherheiten realer Systeme abzuschätzen – und wird auf lange Sicht unser Herangehen verändern. Denn wenn wir Deep Learning Methoden mitdenken, wird es in vielen Fällen nicht mehr nötig sein, Messsignale für menschliche Betrachter in Bilddaten zu übersetzen.

Abschließend ein Blick nach vorn. In Europa und letztlich weltweit wird die Fertigungsbasis für Halbleiter und Batterien ausgebaut. Die Photonik stößt in viele neue Bereiche vor. Steigt damit auch die Nachfrage nach hochpräziser Mess- und Sensortechnik?

Reichelt: Es ist unter vielen Gesichtspunkten wichtig, dass diese wichtigen Technologien verstärkt hier in Deutschland und Europa gefertigt werden sollen. Wir müssen nah dran sein, um mit der Entwicklung Schritt zu halten. Globale Lieferketten erweisen sich in Krisenzeiten als brüchig. Und wir sollten uns aus so mancher Abhängigkeit lösen. Für die Mess- und Sensortechnik liegen darin große Chancen. Denn gerade in Miniaturisierungsfeldern wie der Halbleiter-, MEMS- und Optikfertigung geht nichts mehr ohne hochpräzise optische Messtechnik. Und auch die Qualität, Reichweite und Kosten elektrischer Antriebe werden stark davon abhängen, dass ihre Fertigung von engmaschigen Messungen begleitet wird. Ich denke, es werden noch viele spannende Fragestellungen und Messaufgaben auf uns zukommen. Wir freuen uns auf die entsprechenden Anfragen aus diesen Zukunftsfeldern.

Hüsken: Ich kann diese Aussagen nur unterstreichen, auch wenn ich weiterhin viele Vorteile in globalen Geschäftsbeziehungen sehe. Aber die neuen Technologien bieten enorme Chance für den Standort Deutschland. Wo immer der Nachweis höchster Präzision gefragt ist, brauchen Sie zunächst Messungen, um die Position des Messobjekt zu bestimmen – und nicht zu vergessen: exakte Kalibrierung der Messsysteme selbst. Wir haben hierzulande das nötige Know-how. Vor allem auch in der Mikrosystemtechnik, obwohl sich die Fertigung in der Vergangenheit oft nicht in Europa abgespielt hat. Hier kündigt sich ein Wandel an, in dessen Zuge auch die Ansprüche an uns als Mess- und Sensortechnikhersteller steigen werden. Daher ist die Nähe zur Industrie und zur Institutslandschaft sehr wichtig.